Ich habe länger überlegt, ob ich diesen Beitrag überhaupt schreiben sollte, denn als ich den Blog gestartet habe, war meine Intention, ein möglichst positives Bild vom Diabetes zu vermitteln - zu zeigen, wie gut man damit leben kann und dass es viel schlimmere Dinge auf der Welt gibt. Der Meinung bin ich auch immer noch. Allerdings gibt es trotzdem auch Aspekte am Diabetes, die einfach sch*** sind und die ganz zu verschweigen, wäre ja irgendwie auch nicht richtig. Also gibt es heute mal einen eher ungewöhnlichen Post für diese Seite - gespickt mit ein paar Bildern aus meiner mysugr-App, die zeigen sollen, dass es längst nicht immer rund läuft.
Frustration über hohe Werte
Den Anstoß zu diesem Post gab es von der lieben Sandra, die unter ihrem Instragam-Account die Frage gestellt hatte, welches "Etikett" wir anderen eigentlich beispielsweise einem Wert von 300 mg/dl geben. So kam es, dass ich mir darüber Gedanken gemacht habe, wie ich mich eigentlich (nicht körperlich, sondern psychisch) bei hohen Werten fühle.
Ich kam ziemlich schnell zu dem Ergebnis: 300 mg/dl = "versagt". Wenn ich einen solchen Wert auf meinem Messgerät sehe, fühle ich mich direkt schlecht, weil ich das Gefühl habe, etwas falsch gemacht zu haben - und des Öfteren ist es ja tatsächlich auch so (falsch berechnet, falscher Faktor, vergessen, Bolus abzugeben...).
Mein persönliches Problem ist, dass es mir schwer fällt, zu sagen "Okay, dann war der Wert jetzt eben schlecht, ich lerne daraus und mache es beim nächsten Mal besser". Für mich überwiegt in dem Moment oft der Frust über mich selbst. Dass es mit einer anderen Einstellung deutlich leichter wäre, muss mir dabei niemand sagen, aber ich scheitere da schon mal an meinem Anspruch an mich selbst.

Es gibt sie immer wieder: Tage, an denen die Werte überhaupt nicht (oder wenn, dann nur ganz kurz) sinken wollen
Aber es sind auch nicht nur Selbstvorwürfe, denn oft genug erscheinen hohe Werte auch auf meinem Messgerät, ohne dass ich irgendeine Erklärung hätte.
Beispiel: Die nächtliche Basalrate passt (mehrfach an vorigen Tagen ausgetestet), ich gehe mit 170 mg/dl ins Bett, korrigiere diese noch, habe nichts Fettiges gegessen und sogar noch Sport gemacht und dann wache ich 2 Stunden später auf und habe 249 mg/dl. Das möge mir mal jemand erklären.
Die "unerklärlichen" Anstiege sind durch die Pumpe zwar seltener geworden, ganz weg sind sie aber nicht. Und da kommt bei mir dann statt Frust über mich selbst Frust gegenüber dem Diabetes auf.
Wieso kann ich nicht bei gleichem Verhalten auch gleiche Werte haben? Und wieso klappt es eigentlich bei anderen so toll?
Ein großes Problem: Vergleichen
Womit wir auch bei einem weiteren zentralen Problem wären, was vermutlich nicht nur mich betrifft: Seit ich bei Facebook einigen Diabetes-Gruppen beigetreten bin, sehe ich erstmals direkt, wie es eigentlich bei anderen Diabetikern läuft.
Das Fatale: In sozialen Netzwerken teilt der Mensch naturgemäß lieber das Positive - Urlaubsfotos, glückliche Pärchenbilder, einen tollen neuen Job, Konzertbesuche... und als Diabetiker teilt man eben lieber seine guten Werte. Klar, wie viele Leute würden auch im "normalen" Leben bei Facebook posten, dass sie arbeitslos geworden sind, Streit mit einer nahestehenden Person haben, das Geld in diesem Monat wieder mal nicht ausreicht oder ähnliches? Wir sind eben so, dass wir gerne ein positives Bild von uns erschaffen, vielleicht auch, damit andere sehen können, wie toll es uns doch geht, vielleicht aber auch nur für uns selber. Ich nehme mich da selbst auch gar nicht aus. Mir fällt es auch deutlich leichter, einen guten Blutzuckerwert zu posten als einen schlechten.
Durch diese (verständlichen, aber dennoch auch irreführenden) überwiegend positiven Posts erhält man in Facebook-Gruppen also leicht mal das Bild, dass bei allen anderen alles super
läuft und nur bei einem selbst nicht. Wenn man ohnehin schon frustriert ist, weil es gerade so gar nicht läuft, dann ist das natürlich erst recht demotivierend. Manche
fühlen sich durch die "Nulllinien" der Freestyle Libre-Kurven tatsächlich auch motiviert, bei mir ist es aber eher umgekehrt.
Ich frage mich dann: "Wieso klappt das bei mir nicht? Was mache ich falsch? Was machen die anders?" Dass die anderen vielleicht diese Kurve gerade nur deshalb gepostet haben, weil es seit Monaten der erste Tag ist, an dem es gut läuft und sie sich so darüber freuen, darüber denke ich dann nicht nach.

Auch, wenn hier viele Werte im Zielbereich liegen: Die beiden Pfeile nach oben (> 300 mg/dl) machen es mir schwer, das Positive zu sehen
Vergleichen hat generell vermutlich selten jemandem gut getan, aber gerade beim Diabetes macht es auch einfach keinen Sinn. Nicht nur, dass es unterschiedliche Formen vom Diabetes gibt und unterschiedliche Stadien (viele haben z.B. noch eine Restproduktion von Insulin), es gibt natürlich auch körperlich verschiedene Voraussetzungen und einiges hängt auch mit dem Lebensstil zusammen. Sich zu vergleichen, ist so gesehen Quatsch, dennoch mache ich es immer wieder.
Aber selbst, wenn ich mir das richtig bewusst machen könnte, gibt es ja immer noch diejenigen, die der Ansicht sind, unerklärliche Werte gäbe es nicht und besonders hohe oder niedrige Werte wären lediglich ein Anzeichen von mangelnder Disziplin. Manche haben Low Carb für sich als "Wundermittel" entdeckt, mein Diabetologe z.B. sagt, dass das das Schlechteste wäre, was man als Diabetiker machen könnte. Und allein daran sieht man ja schon, dass man nicht pauschalisieren kann: Was bei dem einen gut funktioniert, ist bei dem anderen wirkungslos. Ebenso, wie manche Diabetiker FPE berechnen müssen und wieder andere nicht. Dann zu behaupten, "Jeder Diabetes ist verschieden" sei eine komplett falsche Aussage, finde ich schon traurig.
Aber deshalb aus sämtlichen Facebook-Gruppen austreten? Für mich überwiegt immer noch das Positive an den Gruppen und einen Großteil meines Wissens über den Diabetes konnte ich im Austausch mit anderen Diabetikern gewinnen. Ich sollte vielleicht also einfach mal lernen, mich weniger zu vergleichen und manche Aussagen zu ignorieren - leichter gesagt, als getan.
Übrigens: Nur, weil ich durch gute Werte von anderen frustriert über meine eigenen Werte bin, soll das nicht heißen, dass ich anderen ihre Werte nicht gönne! Das tue ich nämlich sehr wohl. :-)
Die kleinen Tricks beim Messen
Um über Werte frustriert zu sein, muss man aber natürlich erst einmal überhaupt messen. Und dabei hat ja jeder so seine Macken.
Wenn ich mich bei anderen aus meiner Pumpenschulungs-Gruppe umschaue, scheint eins aber sehr verbreitet: Ich muss meinen Wert zuerst sehen und erst dann dürfen vielleicht andere auf mein Messgerät schauen - wenn der Wert schlecht ist, wird das Messgerät aber schnell ausgemacht und weggelegt. Das habe ich jetzt nicht nur bei mir, sondern eben auch bei den anderen beobachtet.
Dass mir das Messgerät entrissen wird, um zu fragen "Na? Was schätzt du?" konnte ich früher auch noch deutlich besser ab, inzwischen fühle ich mich dabei immer etwas unsicher, weil ich meinen Wert als erstes selbst sehen möchte. Das liegt vielleicht auch daran, dass ich nicht möchte, dass mein Umfeld denkt, ich sei schlecht eingestellt oder würde mit dem Diabetes nicht gut umgehen.
Gleichzeitig habe ich einige weitere "Ticks" beim Messen entwickelt, mit denen ich mich selbst auf eventuelle schlechte Werte vorbereite. Wenn ich weiß, dass der Wert vermutlich sehr hoch sein
wird, schaue ich zunächt einmal gar nicht auf das Gerät selber, sondern höre nur hin - das Contour Next Link ist so eingestellt, dass es ab bestimmten Grenzwerten immer einen
Alarm abgibt. Im niedrigen Bereich ist das bei mir 54 mg/dl (tiefer geht von der Einstellung her auch nicht) und im hohen Bereich habe ich das Ganze ziemlich hoch, auf 300 mg/dl,
eingestellt - aus dem einfachen Grund, weil dieses Piepsen mich wirklich runterzieht; als wenn das Gerät mich "anmeckern" wollte: "Was hast du denn da jetzt
schon wieder für einen Murks gemacht?" (Ja, ich bin da etwas bescheuert :D ). Wenn ich das Gerät also schon piepsen höre, bevor ich hinschaue, habe ich letztlich auch kaum noch Lust, wirklich den
Wert abzulesen - mache es aber natürlich doch ;-)
Und auch beim Ablesen des Werts hat sich eine Technik bei mir eingeschliffen: Wenn ich unsicher bin, ob der Wert hoch sein könnte (z.B. nach dem Schätzen von Essen im
Restaurant), halte ich den Wert erst einmal zu und ziehe dann meine Hand langsam von links nach rechts. So sehe ich zunächst die erste Ziffer- wenn das eine 1 ist, bin ich
beruhigt, wenn es eine 2 ist, ärgere ich mich, und bei einer 3 ist das Ganze ja schon nicht mehr nötig - dem Piepsen sei Dank. Warum ich das so mache, kann ich nicht genau erklären, ich nehme an,
dass ich den "Schock" ggf. etwas langsamer erleben möchte. Wenn ich schon weiß, dass es über 200 mg/dl ist, ist eine nachfolgende 8 etwas leichter zu ertragen, als wenn ich
direkt den ganzen Wert sehe.
Das fand ich beim Contour Next One übrigens toll: Da habe ich immer den ganzen Wert verdeckt und nur auf die Farbanzeige geschaut. Wenn die grün war, wusste ich direkt: Alles ist
gut, du kannst den Wert entspannt angucken. :D
Und immer wieder: Die Angst
Wieso ziehen mich "schlechte" Werte aber so runter? Momentan ist die Lösung da leicht zu finden: Ich bin in der Probephase mit der Pumpe und mein HbA1c war mit 6.4 % schon vor der Pumpe recht gut. Die Schwankungen sind weniger geworden, mein HbA1c aber ist geblieben. Deswegen bin ich zur Zeit sehr darauf bedacht, auf keinen Fall über einen längeren Zeitraum hohe Werte zu haben, weil ich Angst habe, die Pumpe dann nach der Probezeit nicht behalten zu dürfen. Denn was, wenn nur auf den HbA1c geschaut wird, der sich nicht verbessert hat? Und was, wenn die weniger gewordenen Schwankungen nicht ausreichen?

Ein Bild aus Zeiten ohne Pumpe: Extreme Schwankungen waren an der Tagesordnung - mit Pumpe läuft es besser, aber ganz verschwinden können Schwankungen trotzdem nicht (solange man isst ;-)).
Davon ab ist natürlich auch immer die Angst vor Folgeschäden im Hinterkopf. Ich weiß, dass "mal" ein schlechter Wert da nichts ausmacht und dass Anstiege nach dem Essen auch völlig normal sind. Trotzdem denke ich viel darüber nach, wann die Grenze erreicht sein könnte, dass mein Körper sagt "So, das war jetzt eine schlechte Phase zu viel". Gleichzeitig machen mir auch niedrige Werte sehr viel Angst, denn auch hier wird ja spekuliert, ob sie nicht langfristig zu Gedächtnisschäden führen können - und kurzfristig natürlich ggf. sogar zum Krankenhausaufenthalt. Das Gefühl, bewusstlos zu werden und mir selbst nicht helfen zu können, möchte ich nicht haben.
Es ist also irgendwie ein Drahtseilakt, sich in dem Bereich zu bewegen, in dem man sich wohlfühlt, ohne Gefahr zu laufen, zu unterzuckern und gleichzeitig aber auch nicht zu hoch zu sein.
Das Beste geben
Ich finde, am Ende des Tages bleibt einem (so platt das klingt) nicht mehr übrig, als einfach sein Bestes zu geben. Was das Beste ist und welche Ziele man verfolgt, ist wiederum individuell. Für den einen mag das tatsächlich heißen, immer unter 140 mg/dl zu bleiben. Für den Anderen, überhaupt einmal regelmäßig zu messen und zu spritzen. Für wieder andere (wie für mich z.B.) reicht es, wenn der Wert zu einem Großteil der Zeit im Normbereich liegt und die 250 mg/dl (auch nach dem Essen) möglichst nicht übersteigt.
Und wenn man diese Ziele mal nicht erreicht? Weniger vergleichen, weniger runterziehen lassen, weniger Druck machen - das wäre hilfreich. Denn wenn man zumindest sein Bestes gegeben hat und
trotzdem ein schlechter Wert herausgekommen ist, gibt es keinen Grund für Vorwürfe. Wie eine Diabetologin mal sagte: "Der schlechte Wert, den man misst, ist in dem Moment des Messens schon
Vergangenheit - und dann müssen wir uns auf die Zukunft konzentrieren."
Es ist alles so leicht gesagt - aber manchmal ist der Diabetes eben einfach ein Arschloch.
Nachdem ich mich jetzt als keiner "Psycho" geoutet habe :D :
Wie geht es euch mit "schlechten" Werten? Wann ist ein Wert überhaupt für euch "schlecht"? Und was habt ihr für Blutzuckerziele nach dem Essen? Habt ihr Tipps, um euch zu motivieren und von
schlechten Werten weniger beeinflussen zu lassen?
Hinterlasst mir gerne hier Kommentare oder meldet euch bei Facebook oder Instagram.
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Ilja (Montag, 22 Mai 2017 14:10)
Toller Beitrag und danke für das Niederschreiben.
Ich finde es immer wieder faszinierend, wie wir Betroffenen immer sehr ähnliche Gedanken haben, ob nun die Angst vor den Folgeschäde oder die Tricks beim Messen. Ich persönlich habe beim Libre alle Geräusche bzw. Vibrationen ausgestellt, mir reicht die blanke Zahl und mehr will ich nicht. Komischerweise finde ich das so angenehmer, ich brauche keine Messgerät, was mir noch ein schlechtes Gewissen signalisiert.
LG Ilja
Andrea Lie (Montag, 22 Mai 2017 16:22)
Der Bericht hätte von mir geschrieben sein können! Ich lasse normalerweise keinen gucken, wie meine Werte sind! Immer schlechtes Gewissen bei hohen, aber auch bei niedrigen Werten. Seit 46 Jahren geht meine Kurve wie eine Berg- und Talbesteigung. Die Wechseljahre machen es auch nicht besser. Mit libre ist es etwas einfacher geworden.
Lisa (Montag, 22 Mai 2017 21:19)
Der Text ist so wahr - mein Libre piept bei 250 und dann bin ich schon genervt/frustriert. Diese schlechten Werte (hoch oder tief) ziehen mich an manchen Tagen mehr runter als an anderen - an schlechten Tagen bin ich nah am Wasser gebaut und da kommt es schon einmal vor, dass ich im Büro mit den Tränen kämpfen muss. Meine Kollegin ist zum Glück sehr verständnisvoll und motiviert mich wieder nicht aufzugeben.
Aber ich muss noch am Ende eines los werden: Wir geben alle unser Bestes :)