Jeder Diabetiker hat ihn irgendwann erlebt: Den Moment der Diagnose. Ich denke, dass jeder sich an diesen Augenblick noch gut erinnern kann, soweit man denn alt genug war. Ich war es, denn mich erwischte es genau in meiner Teenager-Zeit - oder besser gesagt: drei Tage davor.
Die ersten Anzeichen
Mein 13. Geburtstag stand kurz bevor (ein Sonntag), aber schon seit einigen Wochen ging es mir gar nicht mehr gut.
Ich war ziemlich schlapp, hatte abgenommen, aber das für mich und mein Umfeld Auffälligste war mein ständiger Durst. Ich war (und bin) nie
jemand, der sonderlich viel getrunken hat, aber plötzlich konnte ich kaum genug trinken, meine Kehle brannte förmlich. In der Spitze habe ich an die 6 Liter pro Tag geschafft, aber nichts konnte
meinen Durst so wirklich löschen. Eines Nachts hatte ich zudem einen Wadenkrampf, was für mich zu dem Zeitpunkt auch komplett neu war. Ohnehin waren die Nächte nicht gerade erholsam, da ich
ständig zur Toilette musste.
Kurzum: Ich merkte, dass irgendetwas komisch war, anders als sonst, aber ich wollte irgendwie nicht so richtig wissen, was es nun war. Ich weiß noch, dass eine Freundin damals zu mir sagte:
"Viel Trinken kann ein Anzeichen dafür sein, dass du Zucker hast!"
Zucker - das war für mich damals noch ein ganz normaler Begriff für Diabetes, den ich heute nicht mehr verwenden würde, weil Diabetes für mich mittlerweile ein ganz
selbstverständlicher Ausdruck geworden ist. Damals war es das noch nicht. Ich kannte das Ganze hauptsächlich aus dem Fernsehen und von einer Freundin, mit der ich damals seit kurzem Gitarre
spielte. Ich wusste, dass sie Diabetes hatte, dass sie gut damit zurechtkam, und das war es auch schon. Für mehr hatte ich mich damals nicht interessiert - das sollte sich bald ändern.
Arzt-Statement: "Ach du Scheisse!"
Meine Eltern hatten irgendwann genug von meinem ständigen Durst und wollten gerne sichergehen, dass es nicht doch etwas Schlimmeres ist. Meine Mutter und ich gingen also zum
Arzt, auch wenn ich davon nach wie vor wenig begeistert war.
In der Sprechstunde zeichnete sich dann für mich auch ziemlich schnell ab, dass etwas gar nicht gut war. Alle Fragen, die der Arzt stellte, musste ich mit "Ja" beantworten - Viel Durst?
Abgenommen? Häufiger Harndrang? Wadenkrämpfe? Kurz zurückliegende Viruserkrankung? (Windpocken in meinem Fall)
Dass die sich wiederholenden "Ja"-Antworten tatsächlich nichts Gutes verhießen, ließ sich dann spätestens feststellen, als mein Arzt sich nach dem letzten "Ja" seufzend zurücklehnte und ein
deutliches "Ach du Scheiße" verlauten ließ. Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass das vielleicht nicht gerade die beste Methode war, einer 12-jährigen näher zu bringen, dass sie vielleicht eine
chronische Krankheit hat, aber damals habe ich es gar nicht als so schlimm empfunden.
Der Arzt sagte jedenfalls, wir müssten sofort einen Blutzucker-Test machen, ich hätte vielleicht Diabetes. Also wirklich Zucker, Diabetes, diese Krankheit, die meine Freundin auch hatte,
und von der ich doch so gar nichts wusste?
Dass mein Arzt so schnell auf Diabetes als mögliche Erkrankung kam, war übrigens wohl auch ein wenig Glück, da eben dieser Arzt gerade eine Woche zuvor erstmalig bei einem Jugendlichen Typ
1-Diabetes diagnostiziert hatte und deshalb wohl noch ziemlich sensibilisiert für das Thema war.
Mein erster Blutzucker-Test
Und so ging es dann ins Labor, wo eine Sprechstundenhilfe mich tatsächlich mit einer Nadel in den Finger piekste und dann mit einem Blutzucker-Messgerät meinen Wert ermittelte. Das Auftragen vom Blut auf den Teststreifen fand ich etwas befremdlich, allerdings nicht so sehr wie das Ergebnis: HI.
Was sollte das denn nun bedeuten? Sollte da nicht eigentlich eine Zahl stehen?
Der Sprechstundenhilfe ging es ähnlich wie mir, sie musste eine Kollegin rufen und gemeinsam schauten sie sich dann in der Bedienungsanleitung des Messgeräts an, was diese Buchstabenkombination
nun zu sagen hatte. Dann wechselten die beiden einen Blick, den ich nie vergessen werde. Ab da wusste ich es eigentlich schon.
Ich bin dann zurück zu meiner Mutter gegangen und habe direkt ganz nüchtern zu ihr gesagt: "Ich habe Diabetes."
Meine Mutter versuchte natürlich erstmal, mich etwas zu
beruhigen und mir zu sagen, dass ich doch erstmal abwarten sollte, aber für mich war klar, was kommen würde. Und trotzdem hoffte ich so sehr, dass ich mich irrte und einfach ganz normal
weiterleben konnte wie bisher.
Kurz darauf kam der Arzt wieder zurück ins Sprechzimmer und sagte diesen einen Satz, den ich nicht hatte hören wollen und der mein Leben von heute auf morgen komplett auf den Kopf stellen sollte:
"Ja, sie ist Diabetikerin."
Ich reagierte erstmal sehr gefasst, hörte mir an, was jetzt zu tun war und lächelte sogar. Ich wollte dem Arzt irgendwie nicht zeigen, wie es wirklich in mir aussah, und so richtig realisiert
hatte ich es da wohl auch noch nicht.
Erst einmal wurde mir gesagt, dass HI wohl für high steht und einen Blutzuckerwert anzeigt, der so hoch ist, dass das Gerät ihn nicht mehr messen kann (bei diesem Gerät bedeutete das
über 500 mg/dl). Zur Einordnung erfuhr ich, dass mein Blutzucker normalerweise ungefähr bei 100 mg/dl liegen sollte - das machte mir dann schon etwas Angst.
Als vermutlicher Auslöser wurden mir die Windpocken genannt, die ich vor einem Monat gehabt hatte. Ob das nun tatsächlich so war, weiß ich bis heute nicht, aber Viruserkrankungen
gelten nach wie vor als ein möglicher Auslöser für Typ 1-Diabetes. Da es bei mir auch zeitlich mit dem Beginn der Symptome übereinstimmte, halte auch ich diese Erklärung für
wahrscheinlich.
Man machte mir allerdings direkt klar, dass es nicht meine Schuld war, dass ich nun Diabetes hatte, sondern dass die Veranlagung immer da gewesen war - wären es nicht die
Windpocken gewesen, hätte wohl etwas Anderes das Ganze ausgelöst.
Dann wurde mir erklärt, dass Diabetes früher mal ein Todesurteil war, man inzwischen aber gut damit klarkommen konnte. Ich müsse nur messen und spritzen und um das richtig zu lernen, müsste ich
ins Krankenhaus - für mich die nächste Hiobsbotschaft, schließlich hatte ich in drei Tagen Geburtstag!
Wir einigten uns dann auf folgendes Prozedere: Am nächsten Morgen sollte ich nüchtern kommen und vom Labor meinen genauen Wert ermitteln lassen. Falls dieser in einem akzeptablen Bereich wäre,
könnte man das Wochenende abwarten und mich erst am Tag nach meinem Geburtstag ins Krankenhaus schicken. Es sei dafür aber sehr wichtig, voerst keine Kohlenhydrate zu mir zu nehmen, was natürlich
auch Süßigkeiten und zuckerhaltige Getränke einschloss (toller Geburtstag wird das, war damals so mein Gedanke). Allerdings erhielt ich auch eine gute Nachricht:
"Wenn du erstmal messen und spritzen kannst, darfst du wieder alles essen, was du willst."
Das war der Gedanke, an dem ich mich damals hochgezogen habe und der mich eigentlich auch heute noch trägt.
Nach der Diagnose habe ich zu Hause erst einmal geweint, aber das sind die einzigen Tränen gewesen, die ich wegen der Diagnose vergossen habe.
Als nächstes habe ich meine Freundin, die auch Diabetes hatte, angerufen, ihr davon erzählt und beschlossen, die Krankheit irgendwie anzunehmen und das Beste daraus zu machen. Mein Ziel war es,
alles gut in den Griff zu kriegen. Ich freute mich sogar ein wenig darüber, dass ich jemanden hatte, mit dem ich mich über alles austauschen konnte und der mir Tipps geben konnte. Anders als
viele Andere hatte ich also nie ein Akzeptanz-Problem, was mir sicher vieles einfacher gemacht hat.*
Als man mir am nächsten Tag mitteilte, dass mein Wert bei 426 mg/dl läge, ich aber trotzdem übers Wochenende zu Hause bleiben (und ekelhafte
Diabetes-Sachen wie Diabetiker-Kuchen zum Geburtstag essen ;-)) durfte, freute ich mich und stellte mich gleichzeitig darauf ein, dass nach diesem Wochenende ein neues, anderes Leben
beginnen würde.
Und das war es und ist es bis heute.
* Ich kann trotzdem auch diejenigen gut verstehen, die den Diabetes eine Zeit lang komplett ablehnen, depressiv werden oder generell sehr mit sich und der Krankheit
hadern. Ein paar positive Gedanken, die mir bei der Akzeptanz helfen, findet ihr in diesem Beitrag.
Kommentar schreiben